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InterviewWie gefühlskalt ist unsere Gesellschaft wirklich - ein Sozialpsychologe im Interview

Wer heutzutage in direktem Kundenkontakt arbeitet muss sich viel gefallen lassen, insbesondere betroffen sind Heilberufe. Der Psychologe und Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Dieter Frey spricht im Interview mit dem "Pferdespiegel" über Ursachen und Hintergründe einer gesellschaftlichen Verrohung.

Prof. Dr. Dieter Frey

Wer heutzutage in direktem Kundenkontakt arbeitet muss sich viel gefallen lassen, insbesondere betroffen sind Heilberufe. Der Psychologe und Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Dieter Frey spricht im Interview mit dem "Pferdespiegel" über Ursachen und Hintergründe einer gesellschaftlichen Verrohung.

Pferdespiegel: Herr Prof. Frey, wie es scheint, macht die Verrohung unserer Gesellschaft vor keiner Berufsgruppe halt und dennoch mag man glauben, dass manche Berufe (etwa Heilberufe) mehr betroffen sind. Stimmt diese Annahme und wenn ja, warum?

Prof. Dr. Frey: Es sind natürlich vor allem die Berufe betroffen, wo ein direkter Kundenkontakt vorhanden ist. Da ist die Frau an der Kasse genauso betroffen wie alle Arten von Heilberufler. Durch den direkten Kontakt ist es relativ einfach seinen Frust und Ärger loszuwerden, weil man quasi spontan den negativen Affekt abladen kann ohne groß darüber nachzudenken: wer ist für was verantwortlich und ist es gerechtfertigt?

Pferdespiegel: Ist die Verrohung der Gesellschaft in einer Altersstruktur besonders stark festzustellen? Oder anders: Tut sich eine Generation (etwa die viel gescholtene Y) besonders hervor mit kaltblütigem Verhalten?

Prof. Dr. Frey: Wichtig ist zunächst mal, dass man nicht generalisieren darf. Die Mehrheit der Deutschen jeglichen Alters verhält sich respektvoll und anständig und fällt nicht aus dem Rahmen. Aber es gibt einen gewissen, kontinuierlich steigenden Prozentsatz in der Bevölkerung der nicht nur die Generation Y betrifft, sondern streng genommen in allen Bevölkerungsschichten und allen Altersklassen existiert, bei dem man feststellt, dass früher erachtete Normen und Regeln nicht mehr eingehalten werden. Gerade dann, wenn es zu einer starken Zieleinschränkung kommt – also wenn man sich z.B. blockiert, in der Freiheit eingeengt oder ungerecht behandelt fühlt – wird spontanes und manchmal auch kaltblütiges, abwertendes und respektloses Verhalten nicht nur verbal, sondern eben auch in Form körperliche Attacken zum Ausdruck gebracht.

Pferdespiegel: Welchen Einfluss haben generationsbeeinflusste Erziehungsstile (etwa antiautoritäre Erziehung)? Ist hierdurch die benannte schlechte Kinderstube begünstigt worden?

Prof. Dr. Frey: Sagen wir mal so: Auf die Erziehung wurde in den letzten Jahrzehnten viel mehr Wert gelegt, als früher. Sie ging dabei viel mehr in die Richtung Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung. Zu Zeiten unserer Großeltern und teilweise auch noch unserer Eltern wurde dagegen viel mehr Wert auf Pflicht und Akzeptanz gelegt. Auch die Achtung von Autorität und dem Alter spielten eine viel größere Rolle. Die Erziehung mit Schwerpunkt auf Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung sollte u.a. verbunden sein mit Autonomie und Freiheit. Dagegen ist ja nichts einzuwenden. Aber wenn die Freiheit ohne Grenzen ist, wenn aus Freiheit Freizügigkeit entsteht, nach dem Motto „zuerst komme ich und ich brauche mich nirgendwo einschränken“, dann ist das natürlich völlig unakzeptabel. Hinzu zu dieser Art von Selbstverwirklichungserziehung kommt auch eine Narzissmustendenz: Nicht nur, dass wir an sich schon wenig Kinder haben, es wird jedes einzelne Kind auch noch sehr oft mit dem Bewusstsein erzogen, dass es was ganz Besonderes, Einzigartiges ist. Auch dagegen ist per se nichts einzuwenden, aber man muss trotzdem realistisch bleiben und transportieren, dass es neben Selbstverwirklichung auch Grenzen gibt und dass es für sich und andere auch Verantwortung hat. Es muss lernen, Grenzen und Regeln einzuhalten. Und das geschieht sehr oft nicht mehr, so dass ich schon sagen würde, dass da eine schlechte Kinderstube zusammen mit der Unterstützung in sozialen Medien, die sehr oft regelwidriges Verhalten wiedergeben, eine sehr große Rolle spielen.

Pferdespiegel: Welche Chance bringt Corona? Etwa die dringend notwendige Besinnung auf das Wesentliche? Wird sich die viel beobachtete Tendenz „jung kümmert sich um alt“ weiter fortsetzen und zu mehr altruistischen Zügen in unserer Gesellschaft führen oder ist das Gegenteil der Fall (Stichwort Hamsterkäufe)?

Prof. Dr. Frey: Hier denke ich, dass wir eine Zweiteilung haben: Wir haben nach wie vor das Solidaritätsprinzip, dass man sich kümmert und zwar nicht nur um Jung und Alt, sondern dass man insgesamt im positiven Sinn Sorge trägt, also dass sich Leute nicht allein fühlen, dass die, die Risikofaktoren haben, unterstützt werden usw. Gleichzeitig sehe ich aber auch die andere Tendenz, dass Corona mit sehr viel Stress, Frustration und Kontrollverlust verbunden ist, was sich dann in vermehrt depressiven Verstimmungen, zunehmender Gewalt in den Familien und auch zumindest bei einem gewissen Prozentsatz (ca. 10 %) der Bevölkerung als absoluten Protest gegenüber jeder Art von Restriktionen bzw. Freiheitseinschränkungen wiederspiegelt. Hier ist dringend erforderlich, dass Menschen Zivilcourage zeigen, wo Corona mehr Egoismus bewirkt. Diese Gefahr sehe ich übrigens auch für die Zeit nach Corona: Es könnte dazu kommen, dass sich dann viele Menschen sagen: jetzt endlich kann ich bestimmte Dinge nachholen, die mir versagt wurden und dass dann sehr oft nach der Devise „ich komme zuerst!“ agiert wird. Aber wie gesagt – es ist eine Zweiteilung und ich möchte da nichts generalisieren. Schon gar nicht, dass die Welt schlimmer wird. Festzuhalten bleibt: wir haben Minderheiten, die zunehmen bei regelwidrigem Verhalten.

Pferdespiegel: Wie nachhaltig sind eventuell zu beobachtenden positiven Strömungen durch die Pandemie?

Prof. Dr. Frey: Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nur sagen, dass keine Prognosen möglich sind, aber ich habe den Wunsch, dass bestimmte positive Strömungen durch die Pandemie erhalten werden – einerseits die oben geschilderten Solidaritätsbekundungen und auch faktischen Unterstützungen, andererseits aber auch die Tatsache, dass wir erkennen, dass es nicht darum geht, immer schneller, besser größer zu werden. Wichtig ist aber auch, dass hoffentlich das Problem der Erderwärmung eine viel größere Rolle spielt, wo man ebenso hoffentlich jedem ermöglicht, seinen Beitrag zu leisten und dies von jedem auch so einfordert. Nach wie vor sehe ich diese Zweiteilung und wichtig ist, dass Familien, Schulen, Universitäten, Firmen dagegen steuern, indem sie mehr als bisher betonen, was geht und was nicht: Regelverletzungen und Anpöbelungen gegenüber Helferberufen wie Feuerwehr und Polizei gehen schon gar nicht.

Pferdespiegel: Warum setzen sich derzeit dennoch Egoismus, Narzissmus und Aggression gegenüber Freundlichkeit, Respekt und Hilfsbereitschaft durch? Wegen der Schnelllebigkeit unserer Zeit? Weil wir auf schnellen Erfolg gedrillt sind? Weil uns Voraussicht fehlt?

Prof. Dr. Frey: Hier gibt es nicht den einen Grund, sondern mehrere Gründe wie ich es bereits oben angedeutet habe. Einerseits spielen schon die veränderte Erziehung und das veränderte Wertesystem eine Rolle hinsichtlich Selbstverwirklichung. Und diese bewirkt immer auch die Frage: was tue ich, dass es mir gut geht? Und wenn es mir nicht gut geht, dann schaue ich, dass ich mich von all den Situationen und Personen trenne, die quasi meine Maximierung von Guttun behindern. Diese Gefahr sehe ich schon. Damit und ganz oft mit Selbstverwirklichungsbetonung verbunden, wird eine geringere Verantwortungsbereitschaft für andere generiert. Und auch die Verantwortung, die man für die Zukunft hat. Wir leben natürlich nach wie vor in einer Leistungsgesellschaft, wo Effektivität und Effizienz eine hohe Rolle spielen und wo man auf schnellen Erfolg getrimmt wird. Das sieht man nicht nur im Wettbewerb in Schulen und Universitäten, sondern auch täglich auf der Straße. Natürlich werden all diese Tendenzen verstärkt, durch die sozialen Medien, bei denen Freundlichkeit, Respekt und Hilfsbereitschaft natürlich nicht cool sind, sondern eher das Motto „setze dich durch!“.

Pferdespiegel: Hat die Evolution wirklich auf Freundlichkeit selektiert, wie heute angenommen wird? Ist es nicht eher die Anpassung an derzeit geltende Gesellschaftstendenzen gem. Darwins „survival of the fittest“? Ist der Mensch also nicht eher Fähnchen im Wind und passt sich den gängigen Tendenzen einer Gesellschaft an?

Prof. Dr. Frey: Naja, das ist ja die alte Streitfrage des Menschenbildes: ist der Mensch gut, oder ist er schlecht? Und natürlich gibt es so etwas wie „Survival of the Fittest“, bei dem ich immer sage: Profit- und Machtgier setzen sich gegenüber ethischen Regeln durch. Aber so negativ will ich die Welt auch nicht sehen, denn wir haben ja genügend andere Beispiele, wo solchen Narzissten und Materialisten die Stirn geboten wird und wo Menschen eben das Gegenteil zeigen, nämlich die Umsetzung im Sinne von Emanuel Kant und Ephraim Lessing: behandle den anderen respektvoll und sei tolerant. Zeige gleichzeitig aber auch Zivilcourage gegen Intoleranz. Ich sehe genauso ein Prinzip von Nächstenliebe, von Fürsorge, von Barmherzigkeit und auch von Solidarität. Und entscheidend ist hier natürlich wie immer im Leben: Führung. Was proklamiert der Universitätspräsident, der Schuldirektor, der Familienvater oder die Familienmutter und der Chef im Betrieb. Die Gefahr ist zwar vorhanden, dass man sein Fähnchen nach dem Wind dreht, aber wir haben Gott sei Dank genügend Gegenbeispiele bei denen wir sagen: die Zukunft kommt, aber wie sie kommt, entscheiden wir mit. Aber wir brauchen immer Multiplikatoren, die voraus gehen. Es war und wird immer dieser Dualismus sein zwischen Eigennutz und Allgemeinnutzen. Und hier ist immer auch entscheidend inwieweit Führung und die Multiplikatorenbotschafter für Solidarität und Fürsorge versuchen die Überhand zu gewinnen. Das ist natürlich die Aufgabe von allen und nicht nur von der Polizei oder der Politik.

Pferdespiegel: Beim Blick über den Tellerrand: Die Skandinavier gelten als die zufriedensten europäischen Nachbarn. Da die Frustration gemeinhin als Wegbereiter für Aggression und Kälte gilt: Sind zufriedene Nationen besser gefeit vor „bürgerlicher Kälte“?

Prof. Dr. Frey: Das würde ich schon auch so sehen, dass die jeweilige Kultur schon entscheidet, ob man mit bürgerlicher Kälte oder bürgerlicher Wärme reagiert. Nehmen wir die USA. Man hat ja gesehen, wie die Nation über Jahrzehnte immer mehr gespalten ist und wie deshalb auch der offen gezeigte Rassismus wieder extrem zugenommen hat und teilweise bürgerliche Kälte geherrscht hat. Insofern hilft das jeweilige Klima in jeder Familie in jedem Betrieb aber auch in jeder Nation, wie man mit Einschränkungen umgeht, vor allem auch wie man mit Konflikten und Spannungen umgeht. Also mit Kälte, Nichtkommunikation oder mit Dialogbereitschaft. Und zwar ohne unter dem Zwang nach Konsens zu leben.

Das Interview führte Susanne Pichon, Eibelstadt.

Quelle: Pichon S. Das neue alte Problem der bürgerlichen Kälte und der Umgang mit der Tierärzteschaft. Pferdespiegel 2021; 24(01): 35 - 39. doi:10.1055/a-1255-8153