Prof. Martin S. Fischer ist Zoologe, Evolutionsbiologe und Bewegungsforscher. Seit 2005 befasst er sich intensiv mit der Bewegungsforschung bei Hunden und hat viele Lehrmeinungen nachhaltig verändert. Er spricht über die Bedeutung seiner Forschung für die Tiermedizin und Tierphysiotherapie, seine neuesten Erkenntnisse, die Revolution in der Biomechanik des Knies – und darüber, wie er „auf den Hund gekommen“ ist.
Ihre Studienergebnisse zur Bewegung des Hundes sind in der Fachwelt auf starke Resonanz gestoßen. Wie haben Sie dies wahrgenommen?
Seit 2004 haben über 40 Leute hier am Institut am Hund gearbeitet, es ist also ein Werk von vielen. Und wir waren tatsächlich ganz überrascht über das große Interesse. Wir sind ja Zoologen, und kaum jemand interessiert sich beispielsweise dafür, wie sich eine Maus bewegt – oder ein Faultier. Aber zu unseren Ergebnissen beim Hund haben wir ein unvorstellbar großes Echo erhalten, ja, fast eine Lawine losgetreten. Am schnellsten und stärksten haben die Tierphysiotherapeuten reagiert. Tierärzte waren teilweise zurückhaltend, manche auch ablehnend. Sätze, die ich häufig gehört habe, waren z. B. „Es kann doch nicht alles falsch gewesen sein, was wir gelernt haben.“, „Diese Ergebnisse stellen ja alles infrage!“ oder „Es kann doch nicht sein, dass der Trizeps kein Strecker ist.“
Welche Funktion hat der Trizeps denn tatsächlich?
Er verhindert das durch die Schwerkraft hervorgerufene Einknicken. Er ist ein Antibeuger. Anders als beim Menschen. Das Problem ist, dass die Beschreibungen der veterinärmedizinischen Anatomie in hohem Maße aus der Humananatomie übernommen wurden. Topografische Anatomie, das ist was man im Studium über einen Muskel lernt: Ansatz, Ursprung, Innervation, „Funktion“. Das hilft aber überhaupt nicht auf dem Weg zum wirklichen Verständnis des Muskels. In meinen Vorträgen sage ich gerne: „Der Triceps brachii, das ist ein Strecker, ja – aber nur, wenn der Hund auf dem Rücken liegt und die Beine streckt. Dann macht er es wie wir Menschen.“ Aber wenn er nicht auf dem Rücken liegt, dann hat der Muskel eine komplett andere Funktion. Es ist wie bei uns Menschen, wenn wir Liegestütze machen. Dabei ist unser Beuger auch nicht aktiv, auch wenn wir das Ellbogengelenk beugen. Der Triceps brachii ist hier aktiv und kontrolliert den Grad der Beugung. Und so arbeitet der Hund in seiner Bewegung ständig, in jeder Sekunde. Er lässt die Schwerkraft auf das Bein wirken und der Triceps brachii muss gegen diese Schwerkraft arbeiten. Triceps brachii und die beiden Gastrocnemii sind beim Hund „anti-gravity muscles“. Dies ist seit 1979 beschrieben und ist durch unsere Ergebnisse und Bücher (Fischer, Lilje. Hunde in Bewegung. Kosmos, 2011; Koch, Fischer. Lahmheitsuntersuchung beim Hund. 2. Aufl. Thieme, 2019) in der tiermedizinischen Welt angekommen.
Sie haben lange vorherrschende Lehrmeinungen der Tiermedizin teilweise auf den Kopf gestellt. Wie wurde das aufgenommen?
Ich unterrichte in kleinen Gruppen oder auf Kongressen – vor vielen hochqualifizierten Tiermedizinern. Ich erzähle dort, wie der aktuelle Wissensstand ist – und es gibt meist ziemlich rauschenden Beifall. Vielen wurde durch unsere Arbeit bewusst, dass sie bisher zum Teil in der Praxis Schwierigkeiten hatten, weil sie falschen Lehrmeinungen folgten und das richtige funktionelle Verständnis noch fehlte. Die Tierphysiotherapeuten haben häufig das, was ich sage, die ganze Zeit schon „gespürt“. Bei denen haben wir sehr schnell an deren praktischen Erfahrungen angedockt und sie haben uns zugestimmt.
Inwiefern müssen wir umdenken?
Wichtig für das Verständnis von Muskeln ist z. B. wie viel der Muskel wiegt oder welche Querschnittsfläche er hat. Die physiologische Querschnittsfläche ist für die Kraft verantwortlich. Welche Kraft hat der Muskel, wie viel oxidative Fasern? Topografische Anatomie ist grau, bei der funktionellen Anatomie geht sozusagen das Licht an! „Man muss funktionell denken“ - So denken alle, die sich mit Wirbeltieren und Säugetieren beschäftigen – außerhalb der Tiermedizin. Auch ich muss immer wieder Aussagen revidieren, auch Aussagen aus der 1. Auflage des Buches „Lahmheitsuntersuchung beim Hund“ von Daniel Koch und mir von 2015, weil ich in den letzten 3 Jahren – mit zum Teil neuen Techniken – neue Erkenntnisse gewonnen habe und neues Wissen ansammeln konnte.
Welche Aussagen wären das beispielsweise?
Das in der Orthopädie verwendete Modell für das Kniegelenk beruht auf Barclay Slocum, nach Meinung vieler, einem der besten Orthopäden aller Zeiten. Das ist das Kniemodell, das der TPLO (Tibial Plateau Leveling Osteotomy – Operationsmethode des vorderen Kreuzbandrisses beim Hund), die von Barclay und Theresa Devine Slocum entwickelt wurde, zugrunde liegt. Aber leider ist das Modell einer zweidimensionalen, „gerade rollenden“ Bewegung im Kniegelenk falsch, denn es findet eine Rotationsbewegung im Kniegelenk statt, und zwar eine ziemlich starke.
Nun fragt man sich natürlich, wie richtig kann eine Operationsmethode sein, die auf einem, aus heutiger Sicht, falschen Modell beruht?
Das ist eine schwierige Frage. „Sie hat schon sehr vielen Hunden geholfen“ würden nun viele Orthopäden sagen. Im Englischen gibt es diesen wunderbaren Ausdruck „right for the wrong reasons“. Der trifft hier womöglich auch zu.
Mit welchen Verfahren arbeiten und forschen Sie aktuell?
Wir haben die Röntgenkinematografie oder hochfrequente, biplanare Fluoroskopie entwickelt, die uns erlaubt, Tiere in Bewegung zu durchleuchten. Wir arbeiten mit bis zu 2 000 Röntgenbildern in der Sekunde bei sehr hoher Auflösung. Das ergibt dann diese extrem langsamen Röntgenfilme. Eine neue Technik (scientific rotoscoping) nutzt nun ein virtuelles CT-Modell, welches auf die beiden Röntgenschatten positioniert wird. Daraus kann man dann die exakte Bewegung der einzelnen Knochen nachvollziehen und sichtbar machen. Wir sind damit die ersten, die die räumliche dreidimensionale Bewegung beim Hund wirklich darstellen können.
Welche neuen Erkenntnisse gibt es?
Zum ersten Mal sehen wir nun auch rassebedingte Unterschiede. Die Bewegungen und Torsionen im Kniegelenk sind z. B. unterschiedlich ausgeprägt. Etwa bei der Französischen Bulldogge: Beim Auffußen ist das Femur sagittal orientiert, in der weiteren Bewegung rotiert dieses nach außen. Französische Bulldoggen haben bei jedem Schritt eine Torsion im Kniegelenk – und damit womöglich ein Kreuzbandproblem. Außerdem haben wir erstmalig kranke Tiere untersucht, es gibt nun Bilder und Filme der HD und der Patellaluxation „in vivo“, also in der Bewegung. In einer Masterarbeit wurde auch gerade erstmals die Schulterblattbewegung beim Pferd untersucht. Dabei sieht man auch, dass die Bewegung der Vordergliedmaße aus der Skapula kommt, und nicht aus dem Schultergelenk! Das ist bei allen Säugetieren so – nur die Amplitude ist beim Pferd geringer.
Welche anderen Prinzipien finden sich sonst noch rasse- und speziesüber-greifend?
Fuß und Femur arbeiten immer parallel. Und die Gelenke dazwischen sind „steif“, sonst könnten die Knochen nicht parallel verlaufen. Auch Unterarm und Skapula arbeiten parallel, wenn die Skapula senkrecht ist, ist es auch der Unterarm. Das ist ein Konstruktionsprinzip von Säugetieren. Außer beim Menschen. Wir haben sogar Faultiere untersucht, weil ich mir gedacht habe, wenn man hängt, müsste es anders sein. Aber es ist genau gleich!
Was war neben dem Faultier das exotischste Tier, das Sie untersucht haben?
Wir haben von Mäusen bis hin zu Elefanten fast alles untersucht. Die Elefanten natürlich nicht röntgentechnisch, sondern mit äußeren Markern. Schlicht alles: Pfeifhasen, Beuteltiere, Listaffen, Kapuzineraffen, Lemuren, alles mögliche.
Und wie sind Sie dann letztlich „auf den Hund gekommen“?
2004 wurde ich eingeladen, um bei der Zuchtverantwortlichentagung des VDH über die Fortbewegung beim Hund zu sprechen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ja schon seit fast 20 Jahren Säugetiere untersucht und dachte über den Hund sei das Wesentliche bekannt und erforscht, sah in die tiermedizinische Literatur und fand wenig bis nichts, mein Nicht-Wissen bei diesem Vortrag hat zu einer der ersten Studien zum Hund geführt.
Einer Ihrer meist zitierten Sätze ist: „Wo das Wissen endet, beginnen die Meinungen.“
Richtig. Und unsere Aufgabe als Wissenschaftler ist es, die Meinungen zurückzudrängen – durch immer mehr Wissen. Je mehr wir wissen, umso besser kriegen wir die Meinungen in den Griff. Das ist heute umso wichtiger, da jeder meint, z. B. im Internet, seine Meinung als Wissen kundtun zu können. Ich bin Wissenschaftler. Ich habe nur eine Aufgabe, und die ist es, Wissen zu schaffen.
Was raten Sie Hundehaltern, die Sie z. B. nach dem richtigen Geschirr für ihren Hund fragen?
Beim Geschirr gebe ich keinen Rat, da für mich noch keine wissenschaftlich tiefgründige Studie vorliegt. Aber wissenschaftlich zeige ich gerne einen Röntgenfilm, bei dem man sieht, dass die Skapularotation und -translation nach vorne bis in den Bereich des 4. und 5. Halswirbels reicht. Das Ganze findet also im unteren Halsbereich statt. Und die Skapula dreht zurück bis zum 6. Brustwirbel. Das heißt: Wir wissen, in welchem Bereich die Skapula rotiert – sie rotiert nicht auf dem Thorax, sondern auf dem vorderen Thorax und unteren Hals. Also weiß ich, dass ich kein Geschirr nehmen darf, welches die zervikale Exkursion der Skapula einschränkt. Mit diesem Wissen kann jeder selbst entscheiden, welches Geschirr er anlegt.
Und was sagen Sie zum immer beliebter werdenden Agility? Für welche Hunde ist es geeignet?
Momentan schreibt Frau Söhnel ihre Doktorarbeit zum Thema Agility bei mir. Diese ist noch nicht abgeschlossen. Was man jedoch bereits sagen kann ist, dass die Belastung, die bei der Landung auftritt, für einen Hund relativ ungefährlich ist. Je schwerer allerdings ein Hund ist, desto weniger sollte er für solche Sachen wie Agility eingesetzt werden. Das ist einfache Physik. Je größer, je großvolumiger und massiger ein Hund wird, desto relativ schwächer wird er, denn die Kraft ist proportional zur physiologischen Querschnittsfläche des Muskels, entwickelt sich also in der 2. Potenz, aber das Volumen in der 3. Potenz. Die größte Gefahr sind untrainierter Hund und unerfahrener Halter. Man sollte sich langsam hochtrainieren.
Sie haben selbst einen Hund. Wie halten Sie ihn in Bewegung?
Meine Hündin ist eine absolute Freiläuferin. Sie ist schnell, kräftig und gut im Gelände. Das ist das Natürlichste und Schönste. Ich liebe es, wenn Sie in der Luft fliegt, Rücken durchgedrückt, kurzer Bodenkontakt. Mein Hund braucht kein Agility. Im Freilauf und im Spiel mit anderen Hunden hat sie die Vielfalt an Bewegungen, die für die Gelenkgesundheit so wichtig sind. Schlimm ist es, wenn ein Hund immer nur an der Leine geht – das Gleiche gilt übrigens auch für das Fahrrad. Ein Hund muss ins Unebene, er muss vielfältige Bewegungen ausführen können. Wichtig ist dabei nicht unbedingt die Intensität, sondern die Häufigkeit von Bewegungen.
Die Fragen stellte Dr. Sandra Schmidt.
Quelle: Hands on – Manuelle und Physikalische Therapien in der Tiermedizin (2019). 1(01): 6-8. DOI: 10.1055/a-0995-9808. Thieme E-Journals - Hands on - Manuelle und Physikalische Therapien in der Tiermedizin / Volltext (thieme-connect.de).