Es waren die Bilder des Sommers 2022: Tonnenweise trieben tote Fische, Muscheln und Schnecken auf der Oder. Bald war klar, was als Auslöser der Umweltkatastrophe galt: Eine Mischung aus überhöhtem Salzgehalt, hohen Wassertemperaturen, niedrigem Wasserstand und zu hohen Nährstoffeinträgen und Abwasser löste eine Blüte der Brackwasseralge Prymnesium parvum aus, deren Algentoxin Prymnesin auf Organismen tödlich wirkt. Ein Wissenschaftsteam des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) sammelte damals gemeinsam mit Forschenden des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB), der Veterinärmedizinischen Universität Wien (Vetmeduni) und der University of Birmingham Wasserproben und analysierte sie. Das Ergebnis: Hohe Konzentrationen organischer Mikroschadstoffe haben die tödlichen Auswirkungen von Prymnesin verstärkt.
Die Forschenden konnten mehr als 120 organische Mikroschadstoffe in den Wasserproben nachweisen. Darunter besonders hohe Konzentrationen an einem Flammschutzmittel, einem Polymerzusatzstoff und einem Korrosionsschutzmittel. Die meisten der nachgewiesenen Schadstoffe wurden vermutlich aus Kläranlagen in die Oder eingeleitet, sie weisen jedoch nur niedrige Konzentrationen auf. Das Wissenschaftsteam fand jedoch auch Schadstoffe, die vermutlich aus der Industrie eingeleitet wurden, sowie Pestizide und deren Abbauprodukte, die üblicherweise direkt aus landwirtschaftlich genutzten Flächen in das Gewässer eingetragen werden – allerdings: „Die Konzentrationen dieser Chemikalien sind nicht ungewöhnlich hoch, sondern typisch für europäische Flüsse. Sie haben nicht zum Fischsterben geführt, jedoch können sie zusammen mit den Algentoxinen zu zusätzlichem Stress von aquatischen Organismen führen“, sagt Prof. Dr. Beate Escher, Erstautorin und Umwelttoxikologin am UFZ.
Risikoquotient war deutlich zu hoch
Um zu untersuchen, wie groß dieser Stress und damit das Risiko der nachgewiesenen Schadstoffe für Wasserorganismen sind, nutzten die Forschenden den Risikoquotienten RQ.
Was ist der Risikoquotient RQ?
Der Quotient wird als Verhältnis zwischen der gemessenen Konzentration eines Schadstoffs und seiner unschädlichen Konzentration (PNEC, predicted no effect concentration) definiert.
Überschreitet der RQ den Wert von 1, kann der Schadstoff Wasserlebewesen beeinträchtigen. Die Forschenden addierten die RQs der nachgewiesenen Chemikalien und erhielten so an den Probenahmestellen Mischungs-Risikoquotienten (RQmix) zwischen 16 und 22. „Alle RQmix-Werte überstiegen den Schwellenwert von 1 erheblich, was auf ein potenzielles Risiko für Wasserorganismen durch Schadstoffe hinweist“, sagt Co-Autorin und Wasserchemikerin Dr. Stephanie Spahr vom IGB. Dabei seien nur 30 organische Mikroschadstoffe in das Modell einbezogen worden, obwohl im Fluss vermutlich Tausende von organischen Chemikalien vorhanden seien. Die aus den Wasserproben extrahierten Chemikaliencocktails zeigten auch deutliche Effekte in Laborexperimenten mit Algen, Wasserflöhen und Zebrafischembryonen, die als gängige Modelle für aquatische Organismen gelten.
Wirkung des Schadstoffcocktails
Wie diese Schadstoffe und die in der Oder festgestellten Prymnesine als Mischungen zusammenwirken, untersuchten die Forschenden in Wasserextrakten anhand neurotoxischer Wirkungen auf menschliche Nervenzellen in vitro. Dafür stellte die Vetmeduni einen Algentoxin-Standard zur Verfügung, der große Ähnlichkeit mit den in der Oder identifizierten Prymnesinen aufweist. Das Ergebnis: Die Prymnesine verkürzten schon bei sehr geringen, im nanomolaren Bereich liegenden Konzentrationen die Auswüchse der Nervenzellen, die die Signalübertragung verantworten, und töteten die Zellen.
Daneben wurden viele, in den Wasserextrakten quantifizierte organische Mikroschadstoffe untersucht: Etliche Stoffe waren neurotoxisch, aber bei deutlich höheren Dosierungen. „Durch Mischungsmodellierungen und Vergleiche der in den Extrakten gemessenen Neurotoxizität konnten wir zeigen, dass Prymnesine die neurotoxische Wirkung dominieren. Die von uns analysierten Mikroverunreinigungen haben aber auch einen Beitrag dazu geleistet“, sagt Elisabeth Varga.
Klimawandel spielt bedeutende Rolle
Die Effekte der Schadstoffbelastung auf aquatische Organismen in Flüssen wie der Oder könnten aber letzten Endes noch viel größer sein. „Die Prymnesine haben einen sehr hohen Anteil an den Cocktaileffekten, die durch Mikroschadstoffe noch verstärkt werden. Das belastet das gesamte Ökosystem der Oder, das ohnehin schon unter großem Stress steht, nur noch mehr“, sagt Beate Escher. Und Prof. Dr. Luisa Orsini, Co-Autorin und Professorin an der University of Birmingham, ergänzt: „Die wärmeren Temperaturen und die extremen Wetterereignisse, die durch den Klimawandel verursacht werden, können solche toxischen Algenblüten zu einem noch größeren Risiko für Binnen- und Meeresgewässer und die Bevölkerung machen.“
Quelle (nach Angaben von):
Presse - Fischsterben an der Oder 2022: Mikroschadstoffe verstärkten die Wirkung der Algentoxine (ufz.de). 06.09.2024
(JD)