„Nanu, das hat er noch nie gemacht“, sagt die Halterin von Paul, nachdem er zugebissen hat. Auch die Tierärztin und die Tiermedizinischen Fachangestellten, die Paul zur Blutentnahme fixiert hatten, sind verwundert. Seit einer Pfoten-OP im Vorjahr hatte Paul sich zwar bei Untersuchung und Fixation zunehmend gesträubt, aber gebissen oder geschnappt hatte er noch nie. Und auch jetzt hatte keiner ein Knurren gehört oder ein Drohen bemerkt. Doch der braune Labrador hat sich plötzlich umgedreht und in die Hand der Tierärztin gebissen, die sich seiner fixierten Vordergliedmaße näherte. Hat Paul tatsächlich ohne Vorwarnung gebissen? Oder hatte er vielleicht doch gedroht? Situationen wie diese ereignen sich häufig und es stellt sich die Frage: Woran ist zu erkennen, ob ein Hund gleich beißen wird? Und was ist dann zu tun?
Ausdruck und Verhalten
Um Drohverhalten zu erkennen, müssen zunächst einmal die Ausdrucksmerkmale des Drohverhaltens bekannt sein. Wie kann ein Hund aussehen, der droht? Was machen Augen, Nasenrücken, Lefzen, Stirn, Ohren, Rückenlinie, Gliedmaßen, Rute, Körperspannung und Stimme? Aber auch, wenn diese Ausdrucksmerkmale bekannt sind, kann nicht immer passend reagiert werden, denn: Die Eskalationsstufen von Drohverhalten auf Distanz bis zur Beschädigung können in Sekundenbruchteilen durchlaufen werden . Nicht jeder Hund macht es dem Menschen so einfach, über Sekunden oder gar Minuten hinweg Drohverhalten zu zeigen, bevor er zuschnappt oder zubeißt. Oft wurde den Hunden adäquates Drohverhalten auch zuvor bereits abtrainiert und sie haben gelernt, dass Drohverhalten nicht die gewünschte Distanz herbeiführt. Wird der Hund fixiert, kann er zudem viele Drohsignale, die im sozial adäquaten Kontext vor dem Übergang zur Beschädigung auftreten würden, gar nicht zeigen.
Frühwarnsystem
Im Hinblick auf das Wohlbefinden des Hundes ist zu bedenken: Unwohl fühlt der Hund sich nicht erst, wenn er droht! Die sorgfältige Beobachtung des hündischen Ausdrucksverhaltens in bedrohlichen Situationen sollte daher schon lange vor dem Drohverhalten ansetzen, denn das Drohverhalten mit sich steif machen, Starren und Knurren befindet sich bereits im orange-roten Bereich der Eskalationsstufen hündischen Verhaltens unter Stress (Abb. 1).
Doch welche Verhaltensweisen zeigt der Hund zuvor? In unangenehmen Situationen empfinden auch Hunde häufig Angst und ein ängstlicher Hund zeigt Verhaltensweisen der passiven Submission . Dazu zählen Ausdrucksmerkmale wie eingezogene Rute, angelegte Ohren, straffe Stirnhaut, schmale, schlitzförmige Augen, eingeknickte Gliedmaßen, Seitenlage, Winseln, Fiepen. Auch diese Ausdrucksmerkmale sind schon im gelb-roten Bereich der möglichen Eskalationsstufen.
Beschwichtigung
Ein Hund, der sich unwohl fühlt, zeigt zunächst Beschwichtigungsgesten wie z. B. Blinzeln, Gähnen, Lecken der eigenen Schnauze, Abwenden von Blick, Kopf oder Körper und Pföteln. Auch Übersprungshandlungen und weitere Stress-Symptome zeigen an, dass der Hund sich gerade in einer für ihn angespannten Situation befindet. Welches Verhalten der Hund im weiteren Verlauf der Situation zeigen wird, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab, u. a. auch von dem Verhalten des Gegenübers. Das heißt: Die als bedrohlich empfundene Person trägt mit dazu bei, das Verhalten des Hundes zu beeinflussen.
Der Hund, der Beschwichtigungsgesten zeigt, drückt damit Unsicherheit und Stress aus. Ziel des beschwichtigenden Hundes ist es also, die Situation zu entspannen. Bleibt die Bedrohung nun weiterhin bestehen oder spitzt sie sich für den Hund weiter zu, so ist es aus Hundesicht normal, zur nächsten Eskalationsstufe seines Verhaltens überzugehen. Der Mensch sollte also aktiv für Entspannung sorgen, wenn er die Beschwichtigungssignale des Hundes bemerkt.
Merke
Hingucken hilft gegen Überraschung! Hunde senden Signale, bevor sie beißen.
Erfolgsstrategie
Gut für uns Menschen ist, dass ein Großteil unserer Haushunde andere Konfliktlösungsstrategien als aggressives Verhalten zeigt. Aber jeder Hund kann im Lauf der Zeit lernen, dass ihm die gezeigten Verhaltensweisen in bestimmten Situationen nicht den erhofften Erfolg bringen. Und so kann auch der Hund, der bisher „nur“ ausgeprägtes Submissionsverhalten oder Erstarren zeigte, mit der Zeit beginnen, aggressives Verhalten auszuprobieren. Ist er hiermit erfolgreicher, Distanz zum Gegenüber herzustellen, wird er diese Strategie weiter ausbauen. In der Tierarztpraxis sind derartige Verhaltensentwicklungen häufig zu beobachten.
Selbstschutz in der Praxis
Leider ist es im Praxisalltag häufig nicht möglich, sich gegenüber dem Hund sozial adäquat zu verhalten. Wie kann es das Personal in der Tierarztpraxis es einem Hund wie Paul dennoch ermöglichen, ohne Trauma die Tierarztpraxis zu verlassen? Im Wesentlichen muss hier weit vor dem Untersuchungstermin angesetzt werden. Mit prophylaktischen Trainingsmaßnahmen, wie Medical Training und Trainingsbesuchen von Hunden in der Tierarztpraxis ab dem Welpenalter, kann der Hund lernen, dass weder der Praxiskontext noch die medizinischen Maßnahmen unangenehm sein müssen.
Entspannungsmaßnahmen
Ist das Kind bereits in den Brunnen gefallen und der Hund bereits tierarztgeschädigt, so helfen gezielte Desensibilisierung und Gegenkonditionierung im Rahmen einer fachlich kompetent angeleiteten Verhaltenstherapie . Steht ein stark gestresster Hund auf dem Tisch und muss nun sofort gehandelt werden, hilft es, das Tier genau zu beobachten und so herauszufinden, welche Reize das Tier besonders stressen oder ihm dabei helfen, sich etwas zu entspannen. Im günstigsten Fall lässt der Hund für ein tolles Leckerchen alles über sich ergehen und kommt sogar gerne wieder. In vielen Fällen kann durch Verzicht auf die typischen tierärztlichen Bedrohungsgesten wie z. B. der frontale, schnelle Zugang, die Situation für den Hund deutlich entspannt werden.
Neben der Beobachtung des Ausdrucksverhaltens spielt die Berücksichtigung vielfältiger Maßnahmen zum stressfreien Handling eine große Rolle. Stressfreies Handling im Sinne des Beachtens von Stresssignalen des Hundes und Reduktion bedrohlicher Gesten und Maßnahmen sowie der sicheren Handhabung von passenden Hilfsmitteln, bieten dem tierärztlichen Personal den besten Schutz vor Bissverletzungen. Und dem tierischen Patienten sowie seinem Halter zudem einen hohen Wohlfühlwert.
Der beste Selbstschutz vor Bissverletzungen besteht darin, Stress zu vermeiden, den Hund sorgfältig zu beobachten und bereits auf die ersten Anzeichen von Unwohlsein des Hundes zu reagieren.
Typische Gefahrensituationen
Der Tierarztbesuch stellt für viele Hunde eine Ausnahmesituation dar. Mit der Zeit ist es häufig nicht nur die Untersuchung an sich, sondern bereits das Sitzen im Wartezimmer, der Geruch in der Praxis, das Einbiegen in die Straße zum Tierarzt o. ä., was beim Hund Abwehr hervorruft. Zudem ist der Stresspegel häufig auch nach Beenden der Untersuchung noch längere Zeit stark erhöht. Dem Hund geht es da nicht anders als uns Menschen – sind wir gerade stark angespannt, reagieren auch wir gereizter. So kann es z. B. vorkommen, dass der Hund nach einem unangenehmen Tierarztbesuch auch „danach“ stark angespannt bleibt und besonders empfindlich auf körperliche Interaktionen reagiert.
Ein Fallbeispiel
Paul kommt mit seiner Halterin zur Blutentnahme, wobei Paul sich nicht gerne von fremden Menschen anfassen lässt und großen Stress während der Fixation erlebt. Unabhängig davon, wie die Blutentnahme genau durchgeführt wird und ob Paul dabei aggressives Verhalten zeigt oder nicht, wird der Stresspegel nach Abschluss der Blutentnahme erstmal stark erhöht sein. Die Halterin verlässt nun mit Paul die Tierarztpraxis und trifft auf der Straße eine andere Hundehalterin, die den sichtlich gestressten Paul beruhigen und trösten möchte.
Die Frau nähert sich Paul, spricht in Flötentönen mit ihm und streckt die Hand aus, um ihn zu streicheln. Paul weicht der Frau aus, sie nähert sich jedoch erneut an. Beim zweiten Streichelversuch erstarrt Paul kurz, was keine der anwesenden Personen mitbekommt, fixiert die sich annähernde Hand der Frau, was ebenfalls niemand bemerkt und beißt zu. Nun ist das Geschrei groß, ebenso die Enttäuschung bei der Frau, die es ja nur lieb meinte, als sie den „armen“ Paul streicheln wollte.
Rechtliche Konsequenzen
Szenen wie die mit Paul ereignen sich leider häufig – in der Tierarztpraxis, auf der Straße, in der Hundeschule oder im Zuhause des Hundes. Für den jeweiligen Hund kann eine derartige Situation traumatisch sein. Besonders brisant wird es, wenn man sich vor Augen führt, welche rechtlichen Konsequenzen einem Hund und seinem Halter drohen können, nachdem der Hund einen Menschen gebissen hat. Sollte die geschädigte Frau sich entschließen, den Beißvorfall der zuständigen Behörde zu melden, kämen auf Paul und seine Halterin eine ganze Reihe von Auflagen zur Hundehaltung zu.
Hunde, die einen Menschen oder ein anderes Tier mehr als nur ganz geringfügig verletzt haben, können in den meisten Bundesländern von der zuständigen Behörde als gefährlich eingestuft werden. Die Vorschriften für sogenannte gefährliche Hunde werden von den einzelnen Bundesländern erlassen und variieren daher innerhalb Deutschlands. In vielen Bundesländern gelten zudem Hunde allein schon aufgrund ihrer Rassezugehörigkeit als gefährlich. Diese Art der rechtlichen Gefährlichkeit hat jedoch nichts mit einer Gefährdung anderer durch den Hund zu tun! Das heißt: Kein Hund ist einfach aufgrund seiner Rasse gefährlich und jeder Hund kann unabhängig seiner Rasse real gefährlich sein oder werden.
Management in Niedersachsen
In Niedersachsen kann ein Hund bereits als gefährlich eingestuft werden, wenn „nur“ ein blauer Fleck oder eine kleine Schramme entstehen. Die Gefährlichkeitsfeststellung erfolgt häufig vom Schreibtisch aus, eine Begutachtung durch einen amtlichen Tierarzt ist nicht zwingend erforderlich – es reicht der Nachweis einer Verletzung durch den Hund aus. Wird der Hund von der zuständigen Behörde als gefährlich eingestuft, bekommt er einen Leinen- und Maulkorbzwang außerhalb ausbruchssicherer Grundstücke, und die Haltung des Hundes wird erlaubnispflichtig mit folgenden Voraussetzungen:
Volljährigkeit des Hundehalters,
persönliche Eignung des Hundehalters,
Zuverlässigkeit des Hundehalters (polizeiliches Führungszeugnis),
bestandene praktische Sachkundeprüfung von Halter und Hund nach dem Vorfall,
bestandener Niedersächsischer Wesenstest.
Eine individuell ausgestellte Erlaubnis ist in der Öffentlichkeit von jeder Person mitzuführen, die den Hund ausführt. Werden die Auflagen nicht eingehalten, so kann in letzter Konsequenz eine Sicherstellung des Hundes durch die Behörde erfolgen.
Die Sachkundeprüfung
Bei der praktischen Sachkundeprüfung in Niedersachsen wird im Rahmen eines Spaziergangs vom Prüfer beobachtet, wie Hund und Halter in Begegnungen mit Passanten reagieren. Ziel ist es, dass Dritte nicht durch das Hund-Halter-Team belästigt, behindert oder gefährdet werden. Gehorsam und Leinenführigkeit des Hundes spielen hierbei nur eine untergeordnete Rolle. Gilt ein Hundehalter bereits als sachkundig, muss er die praktische Sachkundeprüfung mit dem als gefährlich eingestuften Hund trotzdem ablegen und auch Personen, die den als gefährlich geltenden Hund spazieren führen, müssen zum Erhalt der Erlaubnis die praktische Sachkundeprüfung mit dem betreffenden Hund erfolgreich abgelegt haben.
Merke
Stressreduktion durch optimales Management des Hundepatienten beugt Gefahren für das Team vor!
Der Wesenstest
Im Niedersächsischen Wesenstest soll der Hund seine Fähigkeit zu sogenanntem sozialverträglichem Verhalten nachweisen. Hierzu wird das Verhalten des Hundes gegenüber Hunden, Menschen und wechselnden Umweltreizen in verschiedenen Situationen überprüft. Die Auswertung des Tests erfolgt anhand von Videoaufnahmen der Situationen. Um den Wesenstest zu bestehen, darf der Hund kein sogenanntes inadäquat aggressives Verhalten oder gestört aggressives Verhalten zeigen. Als inadäquat aggressives Verhalten gilt Angriff mit Stoßen durch den Maulkorb bzw. Beißen in sogenannten Alltagssituationen, z. B. in engen Begegnungen mit Passanten oder beim plötzlichen Öffnen eines Regenschirms. Als gestört aggressives Verhalten gilt Stoßen durch den Maulkorb bzw. Beißen ohne vorheriges Drohverhalten. Gerade hier ist die Videodokumentation unter korrekter Kameraführung essenziell, da auch angemessenes Drohverhalten innerhalb von nur einer Sekunde ablaufen kann.
Nachhaltige Hilfe
Die geltenden Vorschriften zielen darauf ab, die Öffentlichkeit zu schützen, doch für den betroffenen Hund verschlimmern sie die Situation häufig erst einmal. Denn: Der Hund, der gebissen hat, zeigt damit, dass er ein Problem hat. Dem Hund selbst helfen die Maßnahmen, an kurzer Leine und mit Maulkorb ausgeführt zu werden, nicht. Wurde der Hund bisher noch nicht an einen Maulkorb gewöhnt, so stellt das neue „Monstrum“ auf seiner Nase für ihn einen erheblichen Stressor dar und beeinträchtigt ihn in seinem Verhalten. Lief der Hund bis dahin häufig frei oder an langer Leine, so wird ihn auch die nun stets kurz gehaltene Leine unangenehm beeinflussen. Für Hund und Halter ist eine fachlich kompetente Unterstützung in Form von professioneller Verhaltenstherapie die wichtigste Maßnahme, denn so wird die Gefährdung Dritter reduziert und das Wohlbefinden des Hundes (und in der Regel auch das seines Halters) gesteigert.
Infos zum Nachlesen
Die Vorschriften der einzelnen Bundesländer zum Thema „gefährlicher Hund“ finden Sie zusammengefasst auf www.kleintierverhalten.eu/hundehaltervorschriften/ . Unter dieser URL finden Sie auch Informationen zum Niedersächsischen Wesenstest und zur Niedersächsischen Sachkundeprüfung.
Fazit
Gefährliche Hunde sind immer auch ein Ergebnis der äußeren Umstände und mangelnder Kompetenz bei Erziehung und Umgang mit dem Hund. Das Wichtigste für tiermedizinisches Personal ist hier, beim Praxisbesuch so wenig Stress wie möglich aufkommen zu lassen und durch aktive Schulung und Informationen zum Thema Verhaltenstherapie Besitzer und Hund mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Die Originalartikel zum Nachlesen:
(RG)