Benutzeranmeldung

Bitte geben Sie Ihren Benutzernamen und Ihr Passwort ein, um sich auf der Website anzumelden.

Suchergebnisse zur Ihrer letzten Suchanfrage

HeimtiereUnterkieferabszesse bei Kaninchen – bitte nicht reinstechen!

Abszessbildung ist sinnvoll, um Fremdkörper zu isolieren und auszuscheiden. Doch was beim Menschen gut funktioniert, führt beim Kaninchen oft zu Komplikationen. Wir zeigen, wie Sie Kieferabszesse dennoch in den Griff bekommen.

S. Gabriel

Kaninchenabszesse

„Pus bonum et laudabile“ wussten Ärzte schon in der Antike und ersannen vielfältige Methoden, Eiterungen zu schüren und auszuleiten. Was bei Menschen und den meisten Tieren mit Zugsalben und Punktion funktioniert, ist bei Kaninchen wegen der arttypischen zähen Eiterkonsistenz nicht zielführend. Im Gegenteil: Die voreilige Punktion verschlimmert das Geschehen und führt oft zu einem chronisch-rezidivierenden Problem. Eine erfolgreiche Abszesstherapie beim Kaninchen setzt gute Diagnostik bezüglich der Ursachen und eine korrekte Operationstechnik voraus – das ist deutlich mehr als „mal eben einen Eiterpickel ausdrücken!“

Kaninchen mit fazialen Abszessen werden in der Praxis relativ oft gesehen, sei es als primärer Vorstellungsgrund oder aber als „Zufallsbefund“ im Rahmen der Allgemeinuntersuchung, wenn der Tierhalter die einseitige Schwellung noch gar nicht bemerkt hatte. Dabei werden die Kardinalsymptome Tumor (Schwellung), Calor (Wärme), Dolor (Schmerz), Rubor (Rötung) und Functio laesa (Funktionsbeeinträchtigung) vom Laien oft nicht erkannt, doch sie führen den Tierarzt schnell zum Sitz des Problems!

Praxistipp

Bei Kaninchen sollte man bei jedem Praxisbesuch, unabhängig vom Vorstellungsgrund, immer die Zähne kontrollieren und die Kiefer palpieren!

Entstehung

Die oft extremen Abszessbildungen bei Kaninchen entstehen, wenn im Gewebe durch die zellulären Abwehrmechanismen Fremdkörpermaterial gefunden wird und das Phagozytensystem versucht, dies entweder durch Makrophagen zu phagozytieren oder durch Exsudation aufzulösen und zu verdünnen. Im Fall von nekrotischer Zahnhartsubstanz (abgestorbene Zahnwurzeln, Knochensequester) oder pflanzlichem Fasermaterial (parodontal eingespießtes Futtermaterial) wählt die Körperabwehr wegen der Unlöslichkeit eine andere Option: die granulomatöse Entzündung. Mit der Intention, die Noxe durch Einmauern unschädlich zu machen, wird eine starke Demarkationszone um das Fremdkörpermaterial gezogen und durch die gefäßreiche sog. „pyogene Membran“ eingeschlossen.

Diese Prozesse laufen allerdings nicht steril ab und die Besiedlung mit Maulhöhlenkeimen, oft Anaerobier, kann zu einem fulminanten Verlauf führen. Eine Studie von Ewringmann fand in etwa einem Drittel der untersuchten Abszesse anaerobe Keime, in einem Drittel aerobe Keime und in einem weiteren Drittel Mischinfektionen, allerdings zeigen sich auch viele Proben aus Eitermassen steril. Zur Keimbestimmung empfiehlt sich daher immer die Kultur einer Gewebeprobe von der pyogenen Membran in der Peripherie. Da Antibiotika nicht in den Abszess vordringen können, hat eine systemische Antibiotikatherapie meist keinerlei erkennbare Wirkung auf das Geschehen.

Praxistipp

Im Zuge einer chirurgischen Abszesstherapie sollte immer nach der möglichst vollständigen Entfernung der Kapsel („pyogene Membran“) eine bakteriologische Kultur zur Keim- und Resistenzbestimmung aus der Abszesskapsel durchgeführt werden.

Zäh fließt nicht!

Aus dem Vorangesagten ergibt sich die Warnung, niemals einfach so in einen Kieferabszess bei Kaninchen hineinzustechen. Wegen der arttypischen, zäh – käsigen Konsistenz des Kanincheneiters, lässt sich der Abszessinhalt meist nicht vollständig entleeren. Durch Manipulationen kommt es dann oft zu Keimverschleppungen und lokalen Rezidiven, häufig mit Mikroabszessen in der Nachbarschaft und scheinbar metastatischer Ausbreitung. Inwieweit hämatogene Keimverschleppung eine Rolle spielt, ist ungeklärt. Tatsächlich finden sich bei Kaninchen mit Kieferabszessen nur selten Blutbildveränderungen.

Klinisches Bild

Abszessbildungen im Kopfbereich haben ihre Ursache fast immer im Bereich der Zähne und der Maulhöhle, sodass man in der Praxis immer als erstes eine dentale Ursache suchen oder ausschließen muss. Im Oberkiefer kommen differenzialdiagnostisch zusätzlich auch nasale Prozesse, eine abszedierende Dakryozystitis sowie retrobulbäre Eiterungen vor. Im Unterkiefer zeigen sich bei Kaninchen typischerweise zwei Formen dentaler Abszedierungen: akute oder subakute Kieferabszesse mit bullöser Knochenauftreibung.

Akute oder subakute Kieferabszesse mit bullöser Knochenauftreibung

Ausgehend von einer Zahnwurzelentzündung (etwa durch unsachgemäßes „Abknipsen“ oder durch parodontal eingespießtes Fremdkörpermaterial, wie z. B. hölzerne Pflanzenfasern) kommt es zur eitrigen Alveolitis, die ihren Ausgang – der Schwerkraft folgend – nach ventral sucht, wenn der Zahn noch in der Alveole festsitzt. Osteolyse und Osteomyelitis durch pyogene Bakterien reizen den Körper zu einer fulminanten Entzündung mit Bildung einer dicken Demarkation, der sog. pyogenen Membran. Parallel zu lytischen Prozessen, die die Spongiosa des Unterkieferknochens auflösen ([Abb. 1]), kommt es zu stabilisierenden Knochenauftreibungen durch eine periostale Reaktion, oft mit blasenförmiger Auftreibung ([Abb. 1 a] und [1 b]) und in Form von radspeichenartigen Spiculae des Periostes ([Abb. 1 c]).

Scheinbar reine Weichteilabszesse mit multiplen Knoten im Kehlgang

Scheinbar reine Weichteilabszesse mit oft multiplen, metastasierenden Knoten im Kehlgang sind häufig das Endergebnis unerkannter oder durch frühzeitiges Aufstechen falsch behandelter Primärabszesse. Manchmal exazerbieren auch chronische Zahnwurzelgranulome, die durch ventrale Versackung im Weichteilgewebe eine weite räumliche Entfernung zum Primärherd aufweisen können und oft scheinbar „kalt“ sind.

Aus der Pathogenese wird deutlich, dass eine komplette Diagnostik für die jeweilige Behandlung essenziell ist. Dazu gehört in jedem Fall neben der Röntgenuntersuchung die genaue innere Inspektion der Maulhöhle und der Zähne in Narkose mit Aufspreizung der Kiefer sowie Inspektion und Sondierung der Backentaschen, Zahnfleischtaschen und Zahnzwischenräume.

Praxistipp

Vor jeglicher Therapie gilt es, Ursache und Ausmaß einer Abszesserkrankung genau abzuklären. Dazu gehört in jedem Falle die Röntgenkontrolle und komplette innere Untersuchung der Zähne und Maulhöhle in kurzer Narkose. Es gilt die Abszessursache zu identifizieren und zu eliminieren. Ein schnell durchgeführter kühner Schnitt kann das Problem niemals lösen!

Eine Besonderheit der Unterkieferabszesse bei Kaninchen ist, dass auch in chronischen Fällen mit weitreichender Lyse der Spongiosa und Blasenbildung offenbar noch Zahnwachstum stattfinden kann. Weil es der Körper offenbar nicht schafft, die Abszessursache durch Eiterabfluss nach außen zu entfernen, beobachtet man nicht selten gespaltene oder deformierte Zahnkörper oder Dentinoide in skurrilen Formen inmitten der Eitermassen. Logischerweise wirken diese als Fremdkörper und schüren die Abszessbildung weiter. Das unterstreicht noch mal die Bedeutung guter Röntgenaufnahmen für den Operationserfolg!

Operation

Nach kompletter Diagnostik wird am anästhesierten Patienten die Okklusion durch Einschleifen der Bisslage korrigiert und ggf. mobile Molaren von der Maulhöhle aus entfernt. Danach ist möglichst durch Naht oder Tamponade ein Wundverschluss der Alveolen zu schaffen, um in der postoperativen Phase das Eindringen von keimbelasteter Speichelflüssigkeit und Futterpartikeln zu verhindern. Danach wird der Patient in Seitenlage verbracht und durch Rasur, Desinfektion und Abkleben mit OP-Tüchern vorbereitet ([Abb. 2]). Ein sehr wertvolles Instrument ist ein Wundspreizer, der das Einrollen der Haut bei der Präparation verhindert (z. B. Lone-Star Retractor) und das Verrutschen der Tücher oder Abklebungen verhindert ([Abb. 2 b]).

Die Autoren verwenden schon lange die bipolare Elektrochirurgie, um die stark durchblutete Abszesskapsel frei zu präparieren und möglichst in toto zu entfernen. Dabei gilt es, die großen Gefäße am Unterkiefer (A. u V. facialis) zu schonen. Bei der Diagnostik und während der Präparation sollte jeglicher Druck auf den Abszess vermieden werden, um keine Ausschwemmung von Eiter ins umliegende Gewebe oder in Gefäße zu verursachen. Sollte der Abszess doch einmal unabsichtlich eröffnet werden, so wird der Eiter mit sterilen Kompressen abgenommen ([Abb. 2 c]). Um der Kontamination durch einen versehentlich eröffneten Abszess vorzubeugen, empfehlen die Autoren bei dieser OP sicherheitshalber eine perioperative Antibiose mit einem geeigneten Breitbandantibiotikum.

Kürettage

Handelt es sich um einen teilweise mit dem Periost verwachsenen oder bis in die Unterkieferspongiosa reichenden Abszess, ist die vorsichtige Resektion der Kapsel bis aufs Periost zu empfehlen. Mit einem scharfen Löffel kürettiert man danach die im Knochen liegenden Anteile der Abszesskapsel ([Abb. 3 a]). Falls die Kapsel an ihrer Basis durch periostale Auftreibungen schon knöchern durchgebaut ist, können die ossifizierten Anteile des Periosts mithilfe einer Luerschen Zange („Mini-Friedmann“) reseziert werden ([Abb. 3 b]). Dabei ist grundsätzlich darauf zu achten, die Stabilität des Unterkiefers nicht weiter zu reduzieren und nur vorragende Knochenspitzen für eine bessere Wundheilung abzusetzen. Auch für diese Entscheidung ist eine gute Röntgendarstellung unabdingbar ([Abb. 1]).

Abszess-OP Schritt für Schritt

  • Resektion der Abszesskapsel möglichst in toto ohne Eröffnung
  • Curettage der im Kiefer liegenden Kaverne und Blutstillung
  • Suche nach versprengten Eiterherden („Metastasen“) und ihre Entfernung
  • Entfernung aller Sequester, Zahnwurzelreste, „Dentinoide“ und Fremdkörper
  • Röntgenkontrolle
  • Wundeinlage mit Mikrosilbergel (z. B. MicroSilver, BG oder Vulnus No. 2/No. 6, VetInnovations, Nürnberg)
  • Tamponade der Knochenhöhle mit Jodoformgaze
  • Temporärer Hautverschluss zur Fixation der Tamponade oder Offenlassen der Hautwunde zur Schaffung aerober Verhältnisse
  • Regelmäßiges Vorziehen und Resezieren des Tampons bis zum Ausgranulieren der Wundhöhle
  • Revision und Röntgenkontrolle nach 2 – 4 Wochen
  • Ggf. Wiederholung der Tamponade bis zum sekundären Wundschluss
Wundverschluss

Gelingt die komplette Entfernung eines Weichteilabszesses mitsamt der Kapsel, kann ein primärer Wundverschluss erfolgen, wobei eine Gewebeprobe der Kapsel zur bakteriologischen Untersuchung für eine Resistenzbestimmung asserviert werden sollte. Kommt es während der Präparation zu einer Perforation, muss der austretende Abszessinhalt sorgfältig mit Tüchern und Tupfern abgefangen werden, um eine Kontamination des Wundbettes zu verhindern ([Abb. 2 c]).

Häufig gelingt, gerade bei größeren Kavernen im Unterkiefer, die Entfernung der pyogenen Membran im Kiefer nicht vollständig. Nach sorgfältiger Curettage und Blutstillung wurden dazu schon viele verschiedene Vorgehensweisen empfohlen – von der Verätzung mit Calziumhydroxid, diversen antibiotischen Einlagen, über Manuka-Honig, bis hin zur Verwendung von Laser und Kaltplasma. Die Autoren wählen hier als Standard-Vorgehensweise zum Abschluss der OP die Einlage eines Silbergels (Vulnus No. 6, VetInnovations) und die Tamponade der intraossären Wunde mit Jodoformgaze, die mit den Heften des temporären Wundverschlusses fixiert wird.

Antibiose – ja oder nein?

Ob und wie Antibiotika die Ausheilung wirksam unterstützen können, wird weiterhin kontrovers diskutiert. Die Autoren lehnen den lokalen Einsatz von antibiotischen Präparationen (Kapseln, Salben, Styli) im Kiefer wegen der grundsätzlichen Gefahr des Verschluckens und systemischer Nebenwirkungen auf das Darm-Mikrobiom ab. In jedem Fall sollte nach Keimisolierung und Resistenzprüfung ein geeignetes Antibiotikum identifiziert und mit strenger Indikationsstellung lediglich parenteral eingesetzt werden. Dabei ist zu bedenken, dass viele Antibiotika von Kaninchen nicht vertragen werden („PLACE“-Regel).

Die Autoren praktizieren allgemein einen eng limitierten Antibiotikaeinsatz und bevorzugen wegen der grundsätzlich guten lokalen Verträglichkeit Manuka-Honig oder Silberpräparate – eine Spülung und Verätzung mit H2O2 gilt heutzutage als obsolet! Die offene (Marsupialisierung) oder teiloffene Wundbehandlung mit Tamponaden hat sich bewährt, was wohl wesentlich auf die Schaffung aerober Verhältnisse zurückzuführen ist. In jedem Fall sollte kein schneller Wundverschluss angestrebt, sondern dem Körper genügend Zeit zur Ableitung von Sekreten und Detritus sowie zum langsamen Ausgranulieren der Wundhöhle eingeräumt werden. Zu früher Wundschluss führt oft zu Versackungen und Rezidiven. Regelmäßige Nachkontrollen sind anzuraten.

Fazit

Kieferabszesse beim Kaninchen stellen in der Praxis oftmals eine echte Herausforderung dar, denn der Kanincheneiter ist besonders zäh und das Geschehen bei Vorstellung der Patienten meist chronisch. Doch mit einer konsequenten präoperativen Diagnostik und einer den Besonderheiten des Kaninchens angepassten OP und geduldiger Nachbehandlung können auch hier gute Heilungsergebnisse erzielt werden.

 

Der Originalartikel ist erschienen in:

Unterkieferabszesse bei Kaninchen – bitte nicht reinstechen!. Veterinärspiegel 2022; 32(01): 16 - 21. DOI: 10.1055/a-1716-7071.

Nora Papenheim ist Tierärztin und Inhaberin der Praxis Nora Papenheim. Ihre Schwerpunkte liegen in der Behandlung von Kleinsäugern und der Zahnheilkunde.

Dr. Stefan Gabriel ist Tierarzt im Ruhestand. Seine Schwerpunkte lagen in der inneren Medizin bei Kleintieren und der Zahnheilkunde.

Ihr Originalartikel "Unterkieferabszesse bei Kaninchen – bitte nicht reinstechen!" erschien im Veterinärspiegel.